Über das Buch
Die Transition ist keine Wahl
Der Bedarf an zukunftsfähigen, d.h. widerstands- und entscheidungsfähigen, Governancestrukturen ist heute stärker spürbar denn je. Die COVID-19-Pandemie und der Krieg zwischen Russland und der Ukraine sensibilisieren für globalwirtschaftliche Abhängigkeiten und gesellschaftliche Verflechtungen. Überflutungen infolge von Starkregenereignissen und Hitzeperioden begleitet von massiven Waldbränden führen uns den voranschreitenden Klimawandel und seine katastrophalen Auswirkungen vor Augen. Als Folge eines solch dynamischen Krisengeschehens nehmen gesellschaftliche Spannungen, bezogen unter anderem auf Flüchtlingswellen, Inflation, ansteigende Energie-, Öl- und Warenpreise, zu. Als Reaktion auf die diversen gesellschaftlichen Herausforderungen - nicht nur von heute, sondern auch der letzten Jahrzehnte - wurden »Megatrends«, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) und die darauf aufbauende missionsorientierte Innovationspolitik formuliert, die einen politischen Wandel auf der höchsten Ebene charakterisieren. Das Erfordernis, angemessen auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren, reicht dabei von der institutionellen Ebene der internationalen Strukturen der OECD über die lokale Ebene der Kommune bis hin zur organisationalen Ebene von Unternehmen und persönlichen Ebene von Individuen. Es geht nicht mehr darum, ob und wann sich politische Richtlinien, administrative Prozesse, wirtschaftliche Praktiken und persönliche Verhaltensmuster verändern. Vielmehr stehen Fragen im Fokus: wie kann konkret auf die sich stetig ändernden Rahmenbedingungen reagiert werden, wie lassen sich Praktiken und Verhaltensweisen beeinflussen und wie können künftige Entwicklungen antizipiert werden, um die dringend erforderlichen Transitionen anzustoßen und die gewünschte Transformation[1] bestmöglich voranzutreiben.
Schon in unserem ersten Buch »Lokale Wirtschaftsstrukturen transformieren. Gemeinsam Zukunft gestalten« (Merten et al. 2019) haben wir uns der Fragen gewidmet, warum eine Transition der kommunalen Governancestrukturen notwendig ist und was diese beinhalten sollte. Von der Vision und Motivation über die Strategieentwicklung und Beteiligung bis zu der Umsetzung von konkreten Lösungen hat das Buch theoretische und praktische Ansätze, Forschungsergebnisse und Praxisbeispiele gebündelt. Darauf aufbauend nimmt dieses zweite Buch ganz konkret die Wirtschaftsförderung als Struktur und Tätigkeit in den Blick.
Die Wirtschaftsförderung in Deutschland hat eine lange Tradition. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sie eine kontinuierliche Professionalisierung und thematische Erweiterung erfahren, so dass sie heute in der Lage ist, eine aktive Rolle in den verschiedenen Transitionsprozessen einzunehmen. Um dieser Rolle als »Change Agent« gerecht zu werden, bedarf es vor dem Hintergrund der umrissenen gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Rahmenbedingungen einer inhaltlichen, prozessualen und organisatorischen Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung. Diese Neuausrichtung steht im Fokus dieses Buches.
Um dies zu erproben, wurden am Standort Bottrop partizipative Governance-Modelle, welche die lokalen Akteure aktiv in kooperative Gestaltungsprozesse einbinden, auf den Bereich der Wirtschaftsförderung übertragen. Im Rahmen des Projektes »Bottrop 2018+ – Auf dem Weg zu einer nachhaltigen und resilienten Wirtschaftsstruktur – Verstetigung der partizipativen Governance« (weiter Bottrop 2018+) wurden angestoßene Formate und Prozesse unter neuen Herausforderungen fortgeführt und mit anderen Kommunen und Regionen reflektiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse, verwendeten Methoden und Instrumente sowie Erfahrungen der Wirtschaftsförderung in Bottrop und an anderen Standorten in Deutschland werden auf den folgenden Seiten dargestellt.
Ein Handbuch für die Wirtschaftsförderung von Morgen
Dieses Buch ist als Handbuch für Praktiker:innen und Forschende konzipiert. Jedes Kapitel beschäftigt sich vertiefend mit einem spezifischen Aspekt der Wirtschaftsförderung in Transition: von politischen Anforderungen über Mechanismen des Monitorings und der Partizipation bis hin zu organisationalen Veränderungen nach innen. Die Herkunft und Bedeutung der wichtigsten Begriffe werden erläutert, in die Transitionsprozesse eingeordnet und anhand der praxisbezogenen Lehren aus Bottrop 2018+ reflektiert. Unter der Rubrik »Bottrop setzt um« sind die Prozesse und Ergebnisse aus dem Projekt detailliert dargestellt. Bereichert werden diese durch »Praxisbeispiele« aus anderen Projekten und Kommunen. Die Struktur ermöglicht das Verbinden von Forschungsergebnissen mit praktischen Handlungsoptionen. Die interessierten Leser:innen können abhängig von der eigenen Fragenstellung und ihrem Informationsinteresse auf die entsprechenden Abschnitte zugreifen, ohne das gesamte Buch von vorne bis hinten lesen zu müssen (s. Abb. 2). Die Themengebiete sind farblich markiert und bieten damit eine schnelle Übersicht, die wir in nachfolgender graphischer Darstellung der Kapitel aufgreifen.
Für jene, die sich für den politischen Paradigmenwechsel in Richtung Missionen und Veränderung der Rahmenbedingungen interessieren, liefert Kapitel 1 »New Governance« interessante Einblicke. Wie können Missionen für die Wirtschaftsförderung »übersetzt« werden? Was und wie soll in den Wirtschaftsförderungsaktivitäten angepasst werden, damit sie vorausschauend, agil und resilient bleiben? Das erste Kapitel beantwortet diese Fragen, indem es eine Übersicht der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen für die Wirtschaftsförderung gibt und das Konzept der »partizipativen Wirtschaftsförderung« einführt.
Auf kommunaler Ebene gibt es unterschiedliche Ansätze, wie eine Transition der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit zusammen mit den Unternehmen vor Ort konkret angegangen werden kann. Unter »Bottrop setzt um« werden im ersten Kapitel die Reallabore der zweiten Projektphase dargestellt, in deren Rahmen die Wirtschaftsförderung in Bottrop zusammen mit Unternehmen an konkreten Lösungen zu den Themen »Handwerk«, »Handel« und »Fachkräftesicherung« gearbeitet hat. Daneben stellt das Kapitel das Mehrwegpfandsystem reCIRCLE für die Gastronomie in Rottenburg am Neckar sowie das Projekt »Prosperkolleg – zirkuläre Wertschöpfung« in der Region Emscher-Lippe als weitere »Praxisbeispiele« vor.
Monitoring und Evaluation als unabdingbare Elemente der nachhaltigen Entwicklung werden in Kapitel 2 thematisiert. Was bedeutet ein Monitoring der Wirtschaftsförderung? Wie und auf welcher Ebene können Daten gesammelt sowie Prozesse und Maßnahmen evaluiert werden? Das zweite Kapitel fasst die wichtigsten Instrumente für Kommunen, Unternehmen und Wirtschaftsförderungen zusammen und regt dazu an, ein ganzheitliches Konzept aus quantitativen und qualitativen Indikatoren anzuwenden. Das Monitoring als Aktivität der Wirtschaftsförderung beinhaltet neben Sensibilisierungsmaßnahmen und der Förderung des nachhaltigen Wirtschaftens auf Unternehmensebene die Kooperation mit Unternehmen bei der Datenerfassung sowie eine kontinuierliche Evaluation der eigenen Maßnahmen und Prozesse.
Damit Kommunen allgemein und Wirtschaftsförderungen konkret Monitoring und Evaluation durchführen können, benötigen sie passende Indikatoren und Werkzeuge, die sich in die alltägliche Arbeit integrieren lassen. Die Rubrik »Bottrop setzt um« im zweiten Kapitel stellt den im Projekt entwickelten Werkzeugkasten für die Wirtschaftsförderung vor und erläutert, wie dieser zur Evaluation der Reallabore angewendet wurde. Darüber hinaus werden in der Rubrik »Praxisbeispiele« der Messansatz des Projekts »InnovationCity Ruhr | Modelstadt Bottrop«, die Onlineplattform »SDG Indikatoren für Kommunen« und ein für dieses Buch erstellter Vergleich potenzieller Indikatoren für die Wirtschaftsförderung vorgestellt.
Das dritte Kapitel »Partizipation & Interaktion« beschäftigt sich mit der Wirtschaftsförderung als Governance-relevanten Akteur für die Standortentwicklung und veranschaulicht ihre Rolle im Orchestrieren von Partizipationsprozessen. Was beinhalten Partizipationsprozesse in der Wirtschaftsförderung? Zu welchem Zweck und mit welchen Formaten werden sie durchgeführt? Diese Fragen werden im Kapitel anhand von Literaturrecherche, Praxiserfahrungen, Umfragen, Interviews und Workshops aus »Bottrop 2018+« detailliert beantwortet. Die Umsetzung unterschiedlicher Formate wie Reallabore, der Balanced-Scorecard-Prozess, strategische Allianzen und die Wirtschaftsallianz veranschaulichen Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation und haben zur Entwicklung eines Leitfadens für die partizipative Wirtschaftsförderung beigetragen.
Neuartige Formate zur Beteiligung unterschiedlichster Akteure werden vermehrt auf kommunaler und regionaler Ebene angewendet. Unter »Bottrop setzt um« im dritten Kapitel wird die Wirtschaftsallianz als ein Format der Streuung konkreter Lösungsansätze und zur branchenübergreifenden Vernetzung zusammen mit dem erarbeiteten Transferkonzept reflektiert. Weiterhin werden der Hackathon der Wirtschaftsförderung Pirmasens, die Bürger:innenbeteiligungsplattform der Region Rottal-Inn und das XR-HUB Nürnberg zur Förderung eines neuen Ökosystems unter »Praxisbeispiele« vorgestellt.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass es weniger die Organisationsform als vielmehr die Organisationskultur und die damit verbundenen Denkweisen, Handlungsmuster und Gestaltungsspielräume sind, die eine gelingende partizipative Wirtschaftsförderung ausmachen. Vor diesem Hintergrund widmet sich Kapitel 4 den Prozessen des »Change Management« und der Organisationsentwicklung in der Wirtschaftsförderung. Wie lassen sich Strukturen und Arbeitsweisen etablieren, die eine strategisch ausgerichtete Zusammenarbeit der lokalen Akteure sowie der Mitarbeitenden innerhalb der Wirtschaftsförderungseinrichtung ermöglichen? Wie kann gewährleistet werden, dass diese hinreichend flexibel sind, um den durch veränderte Rahmenbedingungen und Krisen induzierten Wandel aktiv zu gestalten, die lokalen Akteure zu orchestrieren und ein Lernen voneinander zuzulassen? Welche Herausforderungen sind mit einer solchen Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung verbunden? Antworten auf diese Fragen liefern die Ergebnisse aus unseren Interviews mit Wirtschaftsförderer:innen aus ganz Deutschland.
Unter »Bottrop setzt um« stellen wir vor, wie der Change-Management-Prozess in Bottrop initiiert und durch die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden des Amtes für Wirtschaftsförderung und Standortmanagement konkretisiert wurde. Zusätzlichen wird der Zukunftsplan als eine Stategie für den Wirtschaftsstandort zusammengefasst. Daneben werden die »Praxisbespiele« der Matrixorganisation in der Mannheimer Wirtschaftsförderung und die Anwendung der Scrum-Methode als agile Arbeitsweise vorgestellt.
Das letzte Kapitel fasst noch einmal unsere Erkenntnisse zusammen und zieht ein Fazit zur Wirtschaftsförderung in Transition.
[1] »Transformation« bezeichnet große gesellschaftliche Veränderungen auf Systemebene, während »Transition« für den Wandel von Subsystemen steht. Die Gesamtheit an Transitionen in einem System führt zu einer Transformation (® Kapitel 1).